Flüchtlinge in der Bringschuld

(c) Kultik.ch
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Eine beschämende Aussage. Ähnlich traurig wie die Meinung einer Bekannten, man müsse eigentlich Flüchtlinge, die sich in Asylheimen prügeln, direkt wieder ausschaffen. Hinter solchen Sätzen steckt viel privilegierte Blindheit und wenig Geschichtsverständnis und Empathie, wie oft bei Meinungen, die weniger auf Fakten, sondern mehr auf Ängsten und Vorurteilen basieren.

Flüchtlinge sind in der Bringschuld

Die Aussage kam von FDP-Ständerat Damian Müller nach Veröffentlichung der aktuellen Zahlen zur Sozialhilfe in der Schweiz, aufgelistet nach Nationalität. Die Zahl, die Aufsehen erregt und Müller wohl zu dieser Aussage veranlasst hat, ist 83.7%, die Quote der in der Schweiz lebenden Somalier, die Sozialhilfe beziehen. Auch Kongolesen und Eritreer werden erwähnt, aber eingeschossen hat man sich auf Somalia, wohl weil der Prozentsatz am höchsten ist. Dass nur knapp 4000 Somalier in der Schweiz ansässig sind, wird im Artikel zwar noch erwähnt, man verzichtet aber auf die Umrechnung, dass diese vielen Prozent nur etwa 3350 insgesamt sind. Schweizweit. Es klingt einfach nicht so eindrücklich wie 83.7%, hey, FAST ALLE!, und würde zu keinem grösseren Geschrei führen. Und Schreie braucht es in der Medienlandschaft, damit man Aufmerksamkeit erregt und die Leser klicken und kommentieren, denn nur so holt man Werbekunden an Bord und in die breiten Randspalten des Onlinemagazins. Dabei verzichtet man auf ausführliche Berichterstattung, es heisst schliesslich 20 und nicht 60 Minuten, wer sich kurz fassen und trotzdem Geld machen will, der muss so schreiben. Ans Herz muss es gehen, oder an die Gurgel, emotionale Achterbahnfahrten sind nötig bei dieser Art des Alltagsjournalismus. Medienverantwortung gleich Null. Man erfährt nicht einmal, wieviel Sozialgelder insgesamt an diese 3350 Somalier gezahlt werden, als wäre diese Zahl nicht interessant genug.

Müller meint, es kämen zu viele Menschen in die Schweiz, die nicht asylberechtigt sind und deswegen jahrelang von der Sozialhilfe leben. Wer asylberechtigt sei, müsse so schnell wie möglich in den Markt integriert werden, auch wenn diese berufliche Integration schwierig sei, weil gerade Afrikaner sehr bildungsschwach sind und die Schweiz ein hochentwickeltes Land, das keine Handlanger braucht. Dann noch Verständigungsprobleme, andere Kultur, es ist alles schwierig, nicht wahr. Wir würden ja gerne helfen, aber so geht das einfach nicht, Integration ist schliesslich keine Einbahnstrasse, O-Ton Müller.

Flüchtlinge sind in der Bringschuld

Nestlé, Glencore und andere multinationalen Grossunternehmen haben ihren Hauptsitz in der Schweiz, sei es, weil sie hier gegründet wurden oder weil sie hier die günstigsten Bedingungen für ihre Geschäfte vorfinden. Sie zahlen auch Steuern, klar, alle müssen Steuern zahlen, aber die Antwort auf die Frage, ob es verhältnismässig ist, was sie abliefern, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Womit aber machen diese Firmen eigentlich genau ihr Geld?

Nestlé ist der weltweit grösste Nahrungsmittelkonzern und wurde dank der Erfindung des Babymilchpulvers berühmt und erfolgreich. Dieses Produkt löste auch den ersten grossen Skandal aus, als 1974 von englischen Hilfswerken die Studie The Baby Killer über die schädlichen Folgen künstlicher Babynahrung in Entwicklungsländern veröffentlicht wurde. Die Schweizer Gruppe „Dritte Welt Bern“ hat sie unter dem Titel „Nestlé tötet Babies“ übersetzt und wurde prompt von Nestlé auf Verleumdung verklagt. Das Unternehmen hat den Prozess zwar gewonnen, der Richter hielt allerdings in der Urteilsbegründung fest, dass Nestlé mit seinem unethischen Verhalten verantwortlich für den Tod tausender Kinder sei. Die Studie trug dazu bei, dass die Weltgesundheitsorganisation einen Verhaltenskodex erliess, der eine nur sehr restriktive Vermarktung von Babypulver erlaubt, Nestlé foutierte und foutiert sich noch um diese Vorgaben, wie die letztes Jahr publizierte Untersuchung der Kinderrechtsorganisation „Save The Children“ und des Guardian zeigt. Das Babypulver wird übrigens in der Schweiz produziert, unterstützt durch das eidgenössische „Schoggigesetz“, das den Export von Milchprodukten fördert, 25 Millionen Franken erhalten sie dafür jährlich. Gerechtfertigt?

Flüchtlinge sind in der Bringschuld

Glencore wurde 1974 von Marc Rich gegründet und ist die weltweit grösste im Rohstoffhandel tätige Unternehmensgruppe. Schlagzeilen wegen Menschenrechtsverletzungen und groben Umweltverschmutzungen machen sie immer wieder, am Geschäften werden sie deswegen trotzdem nicht gehindert, ganz im Gegenteil. Sie werden vom Schweizer Bundesrat sogar legitimiert, der seine Aussagen nicht mal dann zurückzieht, wenn er von Glencore selbst auf deren Falschheit aufmerksam gemacht wird. Aber egal, immerhin zahlt Glencore hier Steuern, also übersehen wir das geflissentlich, denn von Steuerzahlungen können die afrikanischen Entwicklungsländer, in denen der Multi operiert, nur träumen. Eine Recherche der Hilfswerke „Fastenopfer“ und „Brot für alle“ im Kongo hat ergeben, dass die dortigen Glencore-Firmen rote Zahlen schreiben, den Gewinn (und die Steuern) streichen die Glencore-Filialen ein, die ­ihre Büros in Steuerparadiesen haben. Unter anderem also auch die Schweiz. Gerechtfertigt? Diese Frage haben sich auch einige Bewohner von Zürcher Gemeinden gestellt, die von den Steuermillionen profitieren und 2013 die Initiative «Rohstoffmillionen» ins Leben gerufen haben. Hausen, Affoltern, Kappel, Obfelden und Mettmenstetten stimmten darüber ab, ob sie den Geldsegen von Glasenbergs Steuern gänzlich annehmen oder teilweise spenden sollen. Klingt unterstützungswürdig, allerdings nicht in den Ohren von Glasenberg, Glencore’s CEO, der in einem Brief darum bat, diese Initiative nicht anzunehmen, weil sie dem öffentlichen Ruf von Glencore schaden würde. Sorgen hat der. Zum Thema „Reputation“ hat auch Hannah Gadsby einiges zu sagen in ihrem Comedy Special „Nanette“ auf Netflix, das auch sonst sehr sehenswert ist.

Flüchtlinge sind in der Bringschuld

Ich wollte eigentlich noch einen Abschnitt zu Holcim-Lafarge schreiben, aber mir dreht sich jetzt schon der Magen um. Die Heuchelei der Grosskonzerne, wenn es um Menschenrechte und Umweltschutz geht, macht wütend, die Kurzsichtigkeit der Schweizer Politiker, die gegen Asylanten und Sozialhilfeempfänger wettern, ist schwer verdaulich. Deswegen widme ich den letzten Wortschwall dem Land Somalia, man sollte wenigstens wissen, gegen oder für wen man wettert.

Die Vorfahren der Somali wanderten um 500 v. Chr. aus dem südlichen äthiopischen Hochland ein und vermischten sich mit arabischen und persischen Einwanderern, welche ab dem 7. Jahrhundert auch den Islam einführten. Vom 16. bis ins 18. Jahrhundert kontrollierten die Portugiesen die südliche Region Somalias um Baraawe und Mogadischu, der Seehandel brachte Sklaven aus Ostafrika ins Gebiet. Die Fertigstellung des Suezkanals 1869 erhöhte die geopolitische Bedeutung der Region für die europäischen Kolonialmächte, daraufhin setzte die Aufteilung ein, die bis heute nachwirkt: der Westen geriet unter die Herrschaft Äthiopiens, der Süden und Osten wurde von Italien besetzt, der Norden von Grossbritannien. Die Briten sahen in der Kolonie wenig mehr als eine Fleischversorgungsstation und etablierten eine indirekte Herrschaft, die Italiener schlossen Protektoratsverträge ab oder kauften die Städte einfach, die sie haben wollten. Zwischen 1899 und 1920 führte Muhammad ibn ʿAbd Allāh Hassān einen Guerillakrieg gegen die Fremdmächte, etwa ein Drittel der Bevölkerung Nordsomalias wurde dabei getötet, der Widerstand letztlich niedergeschlagen. Die von den Briten und Italienern besetzten Gebiete mit den (ohne Rücksicht auf Geschichte und Clans) gezogenen Grenzen wurden am 1. Juli 1960 unabhängig. Das Verhältnis zu den Nachbarstaaten war wegen der von Somalia gestellten Gebietsansprüche, insbesondere auf die (heute äthiopische) Region Ogaden, gespannt, innenpolitische Krisen zwischen dem Norden, dem Süden und dem Osten, zwischen Clans und Parteien, bestanden weiter. 1969 töteten pro-sowjetische Militärs unter Siad Barre den amtierenden Präsidenten Shemarke und übernahmen die Macht im Land. Barre lehnte sich zunächst an die Sowjetunion an, versuchte einen „wissenschaftlichen Sozialismus“ einzuführen und den traditionellen Einfluss der Clans einzuschränken. 1977/78 führte er den Ogadenkrieg gegen Äthiopien, den Somalia verlor. Weil die Sowjetunion in diesem Krieg das gegnerische, kommunistische Äthiopien unterstützte, wandte sich Barre wirtschaftlich und politisch den USA zu. Im Inneren regierte er zusehends diktatorisch, verschiedene Clans waren Repressionen ausgesetzt. Mehrere Rebellengruppen begannen einen bewaffneten Kampf gegen die Barre-Regierung und stürzten diese 1991, danach existierte aufgrund des noch andauernden Bürgerkriegs mehr als 20 Jahre lang keine funktionierende Zentralregierung mehr. Die ab dem Jahr 2000 unter dem Schutz der internationalen Staatengemeinschaft gebildeten Übergangsregierungen blieben weitgehend erfolglos.

Die Flagge Somalias besteht aus einem hellblauen Rechteck mit einem fünfzackigen Stern. Die fünf Zacken symbolisieren die fünf Gebiete, in denen Somali lebten und leben: die ehemaligen italienischen und britischen Kolonien Italienisch-Somaliland und Britisch-Somaliland, die das heutige Somalia bilden, zusätzlich noch die ehemalige Provinz Ogaden in Äthiopien, der nördliche Grenzdistrikt Kenias und Dschibuti. Das Hellblau war ursprünglich der UNO gewidmet, als Zeichen der Dankbarkeit für deren Förderung nach der Unabhängigkeit des Landes, doch diese Interpretation hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Heute steht das Blau für den Himmel über Somalia und den Indischen Ozean. Ist vielleicht besser so.

Flüchtlinge sind in der Bringschuld

Nein, Herr Müller, das sind sie definitiv nicht.

https://konzern-initiative.ch

Beitragsbild: Flagge Somalia (c) wikipedia.org

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